Projektgruppe beim Singen

„Lasst uns miteinander singen“

Inklusives Liedermaching im Wartburg-Radio. Gastbeitrag von Franziska Klemm

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft – so kommt es mir jedenfalls vor. Es zählen Stückzahlen, Qualität und Mehrarbeit. Individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten stehen meistens hinten an. Rücksichtnahme scheint uns nur daran zu hindern, selbst alle Anforderungen zu erfüllen. Doch dieses Jahr wurden wir schon des Öfteren mit dem Schlagwort „Inklusion“ konfrontiert. Auf politischer Ebenen wird gemeinsames Lernen von Menschen mit und ohne Handicap propagiert. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit wird als Mehrwert verstanden. Doch wie passt diese Forderung zum Leistungsdruck des Alltags? Wie lässt es sich schaffen, einer Gesellschaft die es gelernt hat, in abgetrennten Bereichen zu leben, einander näher zu kommen.

Schon in der Schule besuchten die Mädchen und Jungen mit einer Behinderung andere Einrichtungen. Später arbeitete man getrennt voneinander an verschiedenen Arbeitsstätten. Und nun sollen wir plötzlich wieder alle gemeinsam miteinander klar kommen, miteinander lernen, arbeiten und leben? Wie ist das möglich? Meiner Meinung nach funktioniert inklusives Lernen und Leben nur durch Begegnungen. Es müssen Möglichkeiten geschaffen werden, bei denen Menschen mit und ohne Handicap sich kennen lernen können, Vorurteile abbauen und einander näher kommen. Am besten funktioniert das meiner Meinung nach bei einem gemeinsamen Projekt mit einer gemeinsamen Aufgabe.

Ich arbeite als Medienpädagogin im Offenen Hörfunkkanal Eisenach e. V., dem Wartburg-Radio 96,5. Dort können Bürger ehrenamtlich Radio machen und an medienpädagogischen Projekten teilnehmen. Egal ob jung, alt, mit oder ohne Handicap – jeder ist willkommen und kann sich kreativ austoben. Dabei ist es egal, ob eine Radiosendung am Ende dabei herauskommt oder nur ein kurzer Zwei-Minutenbeitrag. Jeder hat schließlich andere Fähigkeiten und Interessen. Deshalb besteht mein Alltag auch aus vielen verschiedenen Projekten mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren. Ob sie ein Handicap haben, ist dabei nicht wichtig. Was zählt, ist, dass sich diese Menschen aktiv an der Gestaltung ihrer Demokratie beteiligen und Radio produzieren – um ihre Inhalte der Öffentlichkeit mitzuteilen. Vielfalt, statt Einheitsbrei also! Meine Überlegung war nun, wie es möglich sein kann, diese verschiedenen Menschen in einem Projekt zusammen zu bringen – damit sich sich kennen lernen, austauschen und zusammen etwas tolles auf die Beine stellen können.

Auch Instrumente sind erlaubt.Die Idee zum inklusiven Liedermaching wurde geboren: Mit der Erfurter Band „Kalter Kaffee“, die als Liedermacher durchs Land ziehen, überlegte ich, wie sich ein inklusives Projekt für Menschen mit und ohne Handicap auf die Beine stellen lässt. Wichtig war mir und auch den Musikern Björn Sauer und Tilo Schäfer, dass jeder Teilnehmer aktiv und kreativ einbezogen wird. Jeder soll sich seinen Fähigkeiten entsprechend einbringen können. Projektteilnehmer mit und ohne Handicap aus verschiedenen Generationen sollten sich gemeinsam einen Song ausdenken, der das Thema „Miteinander“ aufgreift und kreativ wieder gibt. Jeder darf mitsingen, mittexten oder ein Instrument spielen. Der Song sollte im Studio des Wartburg-Radios aufgenommen werden. Außerdem würde über das Projekt ein Radiobeitrag entstehen, in dem alle Teilnehmer über ihre Erfahrungen miteinander befragt werden sollten. Ein Termin war schnell gefunden: Das Projekt sollte am Freitag, 22. November (15.30 bis 18 Uhr) sowie am Samstag, 23. November (10 bis 16 Uhr) im Seminarraum und Studio des Wartburg-Radio statt finden. Für die Teilnehmer sollte es nichts kosten. Maximal 15 Teilnehmer waren eingeplant, zusätzlich sollte das Projekt noch von einer Heilerziehungspflegerin unterstützt werden, die vor allem die Teilnehmer mit Handicap unterstützen sollte. Um das Projekt zu finanzieren, schrieb ich zwei Förderanträge an die Thüringer Landesmedienanstalt (TLM) und das Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Im Rahmen des Inklusionsjahres 2013 „Gemeinsam leben – Miteinander lernen“ unterstützen beide Institutionen unser Projekt und ermöglichten somit, dass alle Teilnehmer kostenfrei mitmachen konnten. Somit war die Finanzierung gestemmt und die Planung konnte beginnen. Nach Absprachen mit den Musikern wurde das Projekt ausgeschrieben (Presse, Website Radio, persönliche Ansprache von Teilnehmern). Es gelang, insgesamt 13Teilnehmer für das Liedermaching zu gewinnen. Zwei Seniorinnen, acht Jugendliche und junge Erwachsene und drei junge Erwachsene mit Handicap. Alle Teilnehmer sind keine Profi-Sänger und gaben als Motiv an, einfach mal ausprobieren zu wollen, wie man einen Song produziert. Außerdem fanden sie es reizvoll, dass so eine bunt gemischte Gruppe zusammen Musik machen würde. Einige Teilnehmer hatten schon Radioerfahrungen, für andere war das Thema Projekte im Radio komplettes Neuland. Zunächst stiegen „Kalter Kaffee“ mit einem Mitmach-Song ein und brachen so das Eis zwischen den Teilnehmern. Gemeinsam wurde musiziert und sich locker gemacht. Danach sammelten alle zusammen Ideen, die im Lied Platz finden könnten. Es wurden nicht nur Worte oder Sätze gerufen und auf Flipcharts aufgeschrieben, auch Laute wie „brumm, brumm“, „walle, walle“ oder „fallimbamba“ sowie Tier- und Alltagsgeräusche wurden gesammelt. Außerdem durften sich die Teilnehmer mit Percussion-Instrumenten austoben. Es wurde getextet, Ideen wurden wieder verworfen, Sätze wurden notiert und wieder durchgestrichen – es war ein kreatives, wunderbares Chaos. Die Musiker Björn Sauer und Tilo Schäfer lenkten dieses Chaos in geordnete Bahnen, machten Melodievorschläge und halfen den Teilnehmern dabei, eine Struktur in den Song zu bringen. Nach nur zwei Stunden standen bereits die Refrains des Songs, die sich ähnelten, aber doch von Strophe zu Strophe voneinander unterschieden:

erste TextideenBeispiel Refrain 2:

„Lasst uns miteinander hotten,
die Lahmen und die Flotten,
ob mit oder ohne Klamotten,
das haut jeden aus den Botten.
Da feiern selbst im Kleiderschrank die Motten“.

Die Gruppe war mehr als stolz auf ihr Leistung und zum Abschluss des Tages sangen alle Lauthals die neuen Refrains. Es machte viel Spaß und alle freuten sich auf den nächsten Tag.

Der Samstag wurde zunächst weiter zum Texten genutzt. Viele Teilnehmer hatten sich zuhause Gedanken gemacht und brachten ihre Ideen mit ins Radio. Alle waren nochmal kreativ, tauschten sich aus und es war gar nicht wichtig, wer den besten oder längsten Text auf einem Blatt stehen hatte. Man half sich, längst war vergessen, dass irgend jemand ein Handicap hat oder älteren Jahrgangs ist. Man sah den Teilnehmern an, wieviel Spaß die Sache machte. Nach einer Mittagspause, in der sich alle mit Tee und belegten Brötchen gestärkt hatten, ging es ans Eingemachte.

Miteinander SingenEs wurde geübt, geübt und nochmals geübt. Wer gerade Pause hatte, durfte seine Meinung über den Workshop ins Radiomikrophon sprechen. Gegen 14 Uhr starteten wir mit der Aufnahme des Songs – es gab drei Versuche und im Anschluss hörten wir und unseren Song gemeinsam an. Es war ein tolles Erlebnis – alle waren stolz auf ihren Song „Lasst uns miteinander singen“. Jeder durfte das Lied auf CD mit nach Hause nehmen, der Song wurde außerdem eine Woche später gemeinsam mit den Interviews im Wartburg-Radio ausgestrahlt. Die Gruppe war zusammen gewachsen, man verstand sich, unterhielt sich, tauschte Telefonnummern und Mail-Adressen aus. Einige Teilnehmer verabredeten sich sogar, um einmal eine gemeinsame Radiosendung zu produzieren. Die Vielfalt der Gruppe hatte einen wunderbaren Song hervorgebracht, dessen Produktion viel Spaß gemacht hat. Seniorin Gisela war begeistert:“Die Ideen sind einwandfrei und es ist wunderschön, dass jeder, der hier ist und eine Idee hat, auch angenommen wird.! Die bunt gemischte Gruppe hatte viel Spaß zusammen, sagt auch Rolli-Fahrer Christopher: „Weil ich ja selber ein Handicap habe, finde ich es sehr gut, dass man zusammen geführt wird und gleichwertig behandelt wird“. Franziska ist in letzter Minute auf das Projekt gestoßen und hatte vorher noch nie Berührung mit inklusiven Workshops. Ihr gefiel besonders die Dynamik des Projektes: „Es ist toll, dass unser Song aus dem Bauch heraus wachsen konnte, dass es nicht etwas Hochtheoretisches ist, sondern dass es gleich in die Tat umgesetzt wird“. Maria unterstützte das Projekt pädagogisch und ist froh, dass deutlich wurde, dass da „überhaupt nichts dabei ist, wenn Menschen mit und ohne Handicap zusammen kreativ sind“. Christine ist schon Rentnerin und in der Seniorenredaktion im Radio aktiv. Sie bewundert die Teilnehmer mit Handicap: „Sie drücken so eine Zufriedenheit und Lebensfreude aus und bereichern das Projekt unheimlich“. Laura geht noch zur Schule und versteht die Vielfalt im Workshop als Bereicherung: „Es hat geholfen, Toleranz zu stärken und vor allem die Teilnehmer mit Handicap haben eine super Kreativität, sie konnten gut mitarbeiten und ohne sie wäre es auch langweilig gewesen“. Für sie es es wichtig, dass auch im Alltag die Voraussetzungen geschaffen werden, dass sich alle Menschen gleichwertig begegnen können, so dass es gar nicht mehr wichtig ist, ob jemand ein Handicap hat oder nicht: „Ich kann immer wieder feststellen, dass es total wichtig ist, dass sich jeder so entfalten kann, wie er oder sie das möchte“. Gemeinsam lässt sich etwas bewegen und solche Workshops dienen dazu, auch anderen zu zeigen, was alles möglich ist, wenn man es nur will. Ich hoffe, dass jeder Teilnehmer diese Begeisterung mit hinaus in den eigenen Alltag trägt und auch andere davon überzeugt, dass Vielfalt ein Mehrwert ist, der mehr bedeuten sollte, als Leistung, Selbstverwirklichung und Perfektionismus. „Miteinander singen“ ist eine Methode, um schnell und einfach aufeinander zu zu gehen und Barrieren, egal ob räumlich oder in den Köpfen der Menschen abzubauen und sich zu begegnen:

„Lasst uns miteinander singen,
die lauten & die leisen Stimmen,
ob in Timbuktu oder in Thüringen,
lassen wir gute Laune erklingen
und Herzen zum schwingen bringen“.

Ich bedanke mich für die gelungene Umsetzung des Projektes bei Björn Sauer und Tilo Schäfer von „Kalter Kaffee“, Maria Hoschke, die uns pädagogisch unterstützt hat, bei der TLM, dem Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur und vor allem bei allen Teilnehmer des Projektes.

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