Adriani Botez und Selma Brand

Camp Nimm! +++ Session-Doku 8

Adriani Ionut Botez: Bedeutung der Sprachausgaben am Beispiel von NVDA und Voice Over

Die Braille-Punktschrift eröffnete einst blinden und sehbehinderten Menschen das Tor zur Information. Seit mehr als 150 Jahren hat diese Schrift keine Veränderungen erfahren. Die Größe ist gleich geblieben, die Punktstärke blieb unverändert und das System ist unberührt. Seit den 80er Jahren rückten dann Sprachausgaben immer mehr in den Fokus der Entwicklung, die digitale Informationen vorlesen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Schnellere Informationsverarbeitung. Flexible Einstellungen. Weiterentwicklungsmöglichkeiten zu geringen Kosten etc. Doch wie genau funktioniert eine Sprachausgabe und welche Bedeutung kann ihr zukünftig zugesprochen werden? Und ist eine Sprachausgabe wirklich nur für blinde und sehbehinderte Menschen sinnvoll oder ist eine inklusive Nutzung denkbar? Kann Sprachausgabe Punktschrift ersetzen?

Adriani Ionut Botez diskutierte mit Camp-Nimm!-Teilnehmenden, wie eine Sprachausgabe wahrgenommen wird und welchen Nutzen sie wirklich in der Praxis bringt. Sprachausgabe bietet viele Vorteile gegenüber der Blindenschrift: Mit Punktschrift bedrucktes Papier ist dick und braucht viel Platz. Seit den 80er Jahren gibt es Sprachausgaben: Zunächst als Gerät, das man mit dem PC verband und den Inhalt des Monitors vorgelesen hat. Problem war, dass nur zeilenweise vorgelesen werden konnte, Tabellen konnten so nur schwer gelesen werden. Inzwischen sind Sprachausgaben eigentlich in alle Betriebssysteme integriert (Windows, iOS, Android, Linux), auch in Konsolen wie Xbox One, Playstation usw.

Adriani Ionut Botez führte den Session-Teilnehmenden seine eigene Sprachausgabe am iPhone vor: Für die Teilnehmenden ist aufgrund der Geschwindigkeit nichts zu verstehen, sie sind verblüfft, dass blinde Menschen dies verstehen. Auch Blinde müssten dies – laut Botez – jedoch erst lernen. Dann wurde die Geschwindigkeit langsamer gestellt: Alle verstanden nun den Text einer kleinen Geschichte. Eine Session-Teilnehmende meinte jedoch, dass ihr die Betonung der Worte und Sätze gefehlt hat. Laut Botez sei die superschnelle Geschwindigkeit für ihn und andere Blinde die Standardgeschwindigkeit, mit der er z.B. Zeitung liest. Es wäre auch möglich, sich die Satzzeichen anzusagen lässt. Auch die Betonung könne angepasst werden.

Es würde 20 Mal so lange dauern, wenn er Texte in Braille lesen würde. Die Sprachausgabe sei auch schneller als eine menschliche Assistenz, die die Texte vorlesen würde. Bei einer barrierefreien Website wird darauf geachtet, dass Elemente so programmiert werden, dass die Sprachausgabe erkennt, was ein Titel, Textinhalt oder eine Tabelle ist. Dies erleichtere das Lesen und die Suche nach konkreten Inhalten enorm und genauso sei es bei Word und Excel. Um zu erfahren, was auf einem Bild zu erkennen ist, müsse man eine Tastenkombination drücken: dann wird vorgelesen, was auf dem Bild zu sehen ist – z. B. Objekte, dominierende Farben usw. Das sei zwar nicht so emotional, wie es für Sehende ist, aber es ist eine Möglichkeit für Blinde, Informationen zu bekommen, die rein visuell übermittelt werden. Voraussetzung ist, dass Grafiken und Bilder mit sogenannten Alternativtexten versehen werden – eine Bildbeschreibung, die vom Online-Redakteur ins Content Management System eingefügt werden muss. Es gibt unterschiedliche Screenreader von unterschiedlichen Anbietern, auch kostenfreie. Zum Beispiel NVDA der Firma NV Access. Auch bei Windows 10 ist eine Sprachausgabe bereits vorinstalliert, sie sei angenehm anzuhören, hätte aber Probleme mit Google Chrome.

Einige Fragen an und von Adriani Botez:

„Warum klingt die Stimme der Sprachausgabe so „robotisch“?“

Das liegt daran, dass es sich um eine synthetische, also eine künstliche Computerstimme handelt. Diese kann man sehr viel schneller stellen, was für Blinde ja einen relevanten Vorteil beim Erfassen von Informationen darstellt. Würde man natürliche Stimmen ganz schnell stellen, könnte man die einzelnen Buchstaben nicht mehr verstehen.

„Wenn ich einen Text lese, muss ich oft einen Satz nochmal lesen. Passiert dies auch Blinden und wie können sie etwas wiederholt lesen?“

Mit der Sprachausgabe kann man Wort für Wort oder zeilenweise springen und so auch Passagen erneut vorlesen lassen.

„Könnt ihr euch vorstellen, euch auch mehr Texte vorlesen zu lassen, wenn die Stimme angenehm wäre?“

Einige der Diskussionsteilnehmenden fänden das toll, vor allem beim Autofahren. Andere fänden dies nur gut, wenn sie nicht gleichzeitig visuell abgelenkt wären. Wieder andere möchten dieses überhaupt nicht und wünschen sich Ruhe, zum Beispiel bei der Arbeit. In anderen Situationen wäre es kontextabhängig und hätte Vor- und Nachteile, zum Beispiel in der Bahn oder im Museum.

„Was glaubt ihr, was wäre für Kids mit Sehbeeinträchtigung wichtiger zu lernen? Sprachausgabe oder Braille?“

Auch Braille hat Vorteile: Je nach Fähigkeit könne man Braille individuell, im eigenen Tempo, lesen. Bei der Sprachausgabe könne man weniger entscheiden, wie man etwas wahrnimmt (z. B. Reihenfolge, Intensität…), bei der Brailleschrift (oder einem fühlbarem Bild) ist das anders. Letztlich ist es dies ähnlich wie Sehenden: Diese können ja auch entscheiden, ob sie ein Buch lesen oder einen Film sehen. Mit dem Film ginge es zwar viel schneller und evtl. könnte man sogar noch etwas anderes dabei machen. Trotzdem werden Bücher weiter gerne gelesen, weil sie ein ganz besonderes emotionales Erlebnis bieten können. Sprachausgabe sei eben nicht alles. Die Vorstellungskraft werde eher angeregt, wenn man z.B. etwas in Braille liest, da dabei alle Sinne gefordert sind.

Insofern bleibt es weiterhin sinnvoll, möglichst früh Braille zu erlernen, auch wenn es zunächst schwerer ist.