Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Bonn e. V. leistet seit über dreissig Jahren Pionierarbeit für eine inklusive Gesellschaft
Was heißt eigentlich Inklusion? Und welche Rolle können Medien spielen, Inklusion voranzubringen? Wir stellen in dieser Serie Einrichtungen aus NRW vor, die sich bereits auf dem Weg gemacht haben und beispielhaft Angebote für alle gestalten. Nach dem Cafe Leichtsinn in Bergisch-Gladbach, dem HiP, einem Kinder- und Jugendzentrum im Bonner Stadteil Neu-Villich und der Inklusiven OT Ohmstraße in Köln geht es heute um Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Bonn e. V.. Der Verein bringt als „Lobby für Inklusion“ das gemeinsame Leben, Lernen und Arbeiten von Menschen mit und ohne Behinderung in Bonn und darüber hinaus voran.
Die Forderung nach einem gemeinsamen Unterricht gibt es nicht erst seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in 2009. Bereits 1981 haben sich in Bonn Eltern von Heranwachsenden mit Behinderung zusammengeschlossen und für einen Unterricht in der Regelschule jenseits des „Schonraums“ Förderschule gekämpft: Ohne Knowhow, ohne gesetzliche Grundlage, gegen starke Vorbehalte, dafür aber mit einigen Pionieren und Überzeugten an ihrer Seite. Für Eltern, die für ihre Kinder einen inklusiven Unterricht wünschen sowie Einrichtungen, die ihre Angebote für alle zugänglich gestalten wollen, bietet Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Bonn e. V. Beratung, Unterstützung und Kontakte zu einem Netzwerk an Fachexperten. Ingrid Gerber, Projektleitung Inklusion von Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Bonn e. V., über die Arbeit des Vereins, die Vorteile von inklusiven Bildungssettings, die Nachteile von Einzelintegration – und die Rolle moderner Medien im „Kampf um die Köpfe“.
Ziele der Arbeit
NIMM!: Welche Ziele verfolgt Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Bonn e. V., was bietet der Verein mit seiner Arbeit?
Ingrid Gerber: Ziel ist die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, konkret: die Inklusion von Menschen mit Behinderung in Kita, Schule und Beruf. Wir stärken Familien, wir gehen mit Unterstützungsangeboten in Schulen und Kitas und vernetzen mit Organisationen – wo wir nicht weiter wissen, kennen wir meist jemanden, der weiter weiß! Wir bieten passgenaue Beratung z. B. für Familien, die sich einen Regelkindergartenplatz oder einen Schulplatz an einer (bestenfalls integrativen) Regelschule wünschen und unterstützen bei der Vermittlung von Jugendlichen mit Behinderungen an Arbeitgeber. Schulen können wir bei Bedarf auch Sonderpädagogen und andere Fachleute vermitteln, die Lehrer und OGS-Mitarbeiter coachen und die Arbeit im gesamten Team aktiv unterstützen.
Vorteile von inklusiven Bildungssettings
NIMM!: Welche Erfahrungen hat Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Bonn e. V. im Laufe seiner Arbeit mit inklusiven Bildungssettings gesammelt?
IG: Inklusive Bildungssettings ermöglichen den Kontakt von Menschen mit und ohne Behinderungen miteinander. Hierdurch sinken Hemmschwellen und ein unbefangener Umgang wird selbstverständlich. Menschen, die von Anfang an Vielfalt erlebt haben, werden als Erwachsene weniger Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderungen haben und sind der Grundstein für eine inklusive Gesellschaft. Das lässt sich an den Bonner Schulen, die schon länger integrativ arbeiten, gut beobachten.
Kinder können ihr Potenzial am Besten in einem „anregungsreichen“, also einem heterogenen Lernumfeld entfalten. Ein immer wieder unterschätzter Aspekt ist, dass Heranwachsende eben nicht ausschließlich von ihren Lehrenden lernen: Vielmehr lernen SchülerInnen deutlich selbstwirksamer in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand auf unterschiedlichen Niveaus. Alle Kinder profitieren dabei sowohl von dem Blick auf jüngere bzw. leistungsschwächere sowie auf ältere bzw. leistungsstärkere SchülerInnen.
Ideal und Wirklichkeit
NIMM: Was muss passieren, damit solche inklusiven Bildungssettings Realität werden? Wie bewerten Sie den gegenwärtigen Stand der Umsetzung von Inklusion in der Regelschule in NRW?
IG: Ein solches inklusives Lernsetting lässt sich idealerweise natürlich nur in einem jahrgangsübergreifenden Unterricht verwirklichen. Dass hier der traditionelle deutsche Frontalunterricht nicht mehr funktionieren kann und neue Formen des Unterrichtens, z. B. Binnendifferenzierung und die Arbeit mit Wochenplänen, eingeübt und erlernt werden müssen, ist die logische Konsequenz – und eine große Chance, die die UN-Behindertenrechtskonvention nicht nur für die Heranwachsenden mit Behinderungen bietet!
In der Sekundarstufe I gibt es bislang hier in NRW leider nur einige sehr wenige Pilotschulen, die ein solches konsequentes inklusives Lernumfeld organisieren, d. h. mehrere Jahrgänge und Heranwachsende mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichten und somit eben einen echten Spiegel der Zusammensetzung der Gesellschaft ab-„bilden“.
Wir begrüßen, dass in NRW seit 2010 immer mehr Plätze im Rahmen des Gemeinsamen Unterrichts an Regelschulen entstanden sind. Der Weg der Förderschulen, Kindern mit Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten „Schonräume“ zu bieten, entlastet möglicherweise kurzfristig das RegelSCHULsystem, erschwert aber perspektivisch eine Re-Integration dieser Heranwachsenden in das Regel-System der GESELLSCHAFT deutlich: Kinder und Jugendliche mit Behinderung lernen am besten in „Echt-Situationen“, welche Begabungen und auch Begrenzungen sie haben – und entwickeln so ein Selbst-Bewusstsein, das ihnen erlaubt ihre Fähigkeiten in die Gesellschaft einzubringen.
Nachteile der Einzelintegration
Gleichzeitig ist aber auch die sogenannte Einzelintegration kritisch zu bewerten: Besucht ein Kind mit einem besonderen Bedarf alleine eine Regelschulklasse, so muss es sich schnell „besonders“ vorkommen. Kinder und Jugendliche brauchen auch immer einen Austausch mit ihren „Peers“, d. h. Kinder und Jugendlichen mit ähnlichen Einschränkungen. Hier können sie sich vergleichen, den Umgang mit Schwierigkeiten abschauen und bei der Problembewältigung anderer einfach zuschauen und mittels dieser Beobachtungen lernen.
Vorteile moderner Medien
NIMM!: Welche Rolle spielen moderne Medien in der Arbeit von Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Bonn e. V.?
IG: In den vergangenen Jahren ist die Bewusstseinsbildung in Sachen Inklusion gut vorangekommen. Früher waren wir die Exoten, weil wir für unsere Kinder „Normalität“ wollten. Wir mussten zum Teil gegen massive Widerstände angehen, in den Schulen, in der Schulverwaltung, in der Politik… nicht selten erhielten unsere Kinder nur auf dem Klageweg oder durch Androhung des Klageweges einen integrativen Platz. Seit Deutschland die UN-Konvention ratifiziert hat und Inklusion über die Präsenz in den Medien für viele Menschen zu einem Thema geworden ist, wandelt sich die Stimmung. Die Menschen sind noch skeptisch, aber viel offener gegenüber dem Wunsch nach Inklusion.
Dazu kommt, dass auch wir von den modernen Kommunikationsmöglichkeiten profitieren, so wie alle sozialen Bewegungen: Im Zeitalter von Briefpost und Büchern vergingen schnell Tage, Wochen und Monate, bis eine Nachricht die Mitstreiter erreichte. Heute sprechen wir uns per E-Mail oder über soziale Medien ab. Das hat unsere Vernetzung erheblich verbessert.
Wie wir arbeiten
NIMM!: Zum Abschluss noch ein fiktives Beispiel, um Ihre Arbeitsweise zu verdeutlichen: Die Leiterin einer Jugendeinrichtung kommt auf Sie zu. Sie möchte ihre Einrichtung gerne „inklusiv“ aufstellen, ist aber unsicher, was dafür zu tun ist. Wie gehen Sie vor?
IG: Wir klären in einem ersten Beratungsgespräch, was benötigt wird, z. B. Informationen und Knowhow zu verschiedenen Behinderungen, Schulbegleiter, Coaches, Weiterbildungen usw. und begleiten die Einrichtung dann über einen Zeitraum. Wir bleiben in Kontakt und vergewissern uns, dass die ersten Schritte erfolgreich weitergegangen werden können. Bei Bedarf kommen wir auch zu Eltern-Informationsabenden oder organisieren Fortbildungsveranstaltungen für das Personal.
NIMM!: In der gleichen Einrichtung soll ein Medienprojekt durchgeführt werden, es möchten 3 Heranwachsende mit Down Syndrom teilnehmen. Was raten Sie in diesem Fall?
IG: Dies wäre ein klassischer Fall, in dem wir mit barrierefrei kommunizieren! Bonn zusammenarbeiten: In einem gemeinsamen Beratungsgespräch wird der Bedarf der jungen Menschen konkret ermittelt, ggf. Kontakt mit den Eltern oder betreuenden Fachleuten aufgenommen und das Projekt somit bestmöglich vorbereitet und dann in Folge fachlich weiter unterstützt.
NIMM!: Wir danken für das Gespräch und wünschen viel Erfolg für die weitere Arbeit!
Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Bonn e. V.…
…wurde 1981 von Eltern gegründet, die für ihre behinderten Kinder einen Platz an der Regelschule wünschten. Erste Unterstützer und „Ermöglicher“ waren die Schulleiterin der Bodelschwinghschule, Frau Bode, sowie Werner Koch-Gombert und Heribert Brabeck von der Stadt Bonn. Der Verein hat ca. 100 Mitglieder, neben dem 5köpfigen Vorstand wird die Arbeit von vielen ehrenamtlich arbeitenden Eltern unterstützt. Die Arbeit des Vereins wird seit 2013 von der Aktion Mensch gefördert.
…Kooperationspartner sind die LAG Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen NRW e. V., die 1994 aus dem Verein heraus gegründet wurde und landesweit Elterninitiativen und Mitgliedsverbände koordiniert sowie der Elternverein mittendrin e. V., der den Kongress „Eine Schule für Alle“ organisiert und durchführt. Aus dem Kongress ging das Rheinlandplenum hervor, in dem mittlerweile über 30 Elterninitiativen zusammengeschlossen sind, die regelmäßig gemeinsame Aktionen planen und durchführen.
…erfolgreiche Aktionen waren die Bürgeranträge auf die Erstellung von Inklusionsplänen in 2009, mit dem Ziel der planvollen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention; aktuell werden Bürgeranträge auf Erhebung der Ressourcen gestellt, die die Kommunen insgesamt für sonderpädagogische Förderung ausgeben – sowohl im Regelschul-, als auch im Förderschulsystem – um sicherzugehen, dass die Ressourcen beim Umbau des Systems hin zu einem inklusiven auch wirklich für Kinder mit sonderpädagogischem Bedarf vorgehalten werden.
…weitere wichtige Kooperationspartner sind die Aktion Mensch, Der Paritätische, die Stadt Bonn, die Behinderten-Gemeinschaft Bonn als Behinderten-Beauftragter der Stadt Bonn, das Diakonische Werk Bonn/Rhein-Sieg.
…Zu den Netzwerkkontakten gehören auch die Bertelsmann-Stiftung, die Montag Stiftung sowie der Bundesbehinderten-Beauftragte der Bundesregierung.
Kontakt
- Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen Bonn e.V.
- Postfach 150 125
- 53040 Bonn
- Telefon: 0228 30414030
- Fax: 0228 30414039
- www.gl-gl-bonn.de
- Ingrid Gerber, Projektleitung Inklusion GLGL, i.gerber[at]gl-gl-bonn.de
- Loretta Bading-Weiss für den Vorstand GLGL, l.bading-weiss[at]gl-gl-bonn.de