Abbildung: Als „gut“ getestete Funktionssymbole (Anmelden, löschen, Beiträge von allen Kontakten anzeigen)

Social Media für alle

Das Projekt Webinklusion der TU Braunschweig. Gastbeitrag von Alexander Perl

Das Projekt home des Lehrstuhls für Informationsmanagement der TU Braunschweig will eine Ausprobierplattform für Soziale Online Netzwerke für Menschen mit Beeinträchtigungen schaffen. Im Sommer 2014 wird diese freigeschaltet. Sie basiert auf Forschungsarbeiten im Bereich barrierefreies Web und enger Zusammenarbeit mit der Zielgruppe sowie Fachpersonal aus der Behindertenunterstützung. Home wird für Menschen mit Lern-, Lese- und Schreibbeeinträchtigung sowie geistiger Behinderung sehr leicht zu bedienen sein und ein für Webangebote außergewöhnlich sicheres Umfeld bieten. Dazu bietet die Projektgruppe um home begleitende Schulungen an.

Soziale Online Netzwerke sind überall…

Heute wird es unter Jugendlichen immer schwieriger Anschluss zu finden, wenn man nicht bei Facebook, Twitter und Co. ein Nutzerkonto hat, oder drüber diskutieren kann, warum eben nicht. Die Vorteile in der Nutzung von Sozialen Online Netzwerken wie Facebook liegen dabei auf der Hand:

  • Interaktion und Vernetzung mit vielen Menschen, auch weltweit,
  • leichtes in Kontaktbleiben mit vielen Bekannten, Freunden und der Familie,
  • eine gute Möglichkeit, um sich in Interessengruppen effizient zu organisieren und
  • Interessengruppen von Minderheitsthemen leicht finden und beitreten.

Die Nachteile lassen sich durch selbstkritisches Handeln und bewussten Umgang mit dem Medium minimieren, indem man zum Beispiel die Sichtbarkeit der Beiträge einschränkt und möglichst wenig private Informationen preis gibt. Trotz solcher relativ einfachen Schutzmaßnahmen gibt es immer wieder negative Nachrichten von „Facebook-Partys“ oder Missbrauch durch falsche Identitäten. Oft fehlt das Bewusstsein und Wissen über die „Weböffentlichkeit“, also die Möglichkeiten und Grenzen der Reichweite von Beiträgen im Internet.

Aber mehr als ein Viertel der Deutschen, ungefähr 26 Mio., sind bei Facebook. Die Nutzerzahlen steigen ständig. Social Media ist überall: Wenn Sie zufällig von der Hochzeit einer alten Freundin erfahren und sie mal wieder anrufen. Oder wenn Sie mitbekommen, dass es ein neues Verzeichnis von barrierefreien öffentlichen Orten im Internet gibt. Oder wenn Sie sich einfach darüber unterhalten, dass das Video der besten Tore der Bundesligasaison, das gerade bei Facebook kursiert, eigentlich viele hervorragende Tore nicht zeigt. Von der über Facebook angefeuerten „arabischen Revolution“ ganz zu schweigen. Ohne Wissen über Soziale Netzwerke, ohne selbstbestimmte Teilnahme daran kann man tatsächlich den Anschluss verpassen.

– … aber nicht FÜR alle…

Es sollten also alle mitmachen können. Schaut man sich jedoch die gängigen Sozialen Online Netzwerke an, kann man schnell erkennen, dass nur wenige Bedürfnisse und Anforderungen an barrierefreien Webseiten erfüllt werden. (1) Die Funktionen der Schaltflächen von Facebook, Google+ und Co. sind hauptsächlich durch Text erläutert. Symbole sind dabei nur Beiwerk. Sicherheits- und Privatsphäreeinstellungen stehen nicht im Fokus oder sind sogar versteckt. So fördert der Ablauf der ersten Registrierung bei Facebook sogar intensiv die Preisgabe von persönlichen Daten, bis hin zur eigenen Handynummer. Zig Möglichkeiten zu kommunizieren machen die Oberflächen unübersichtlich und liefern viele Gründe zur Ablenkung vom eigentlichen Ziel. Technisch also stellt sich die schöne Social Media Welt als sehr barrierereich dar: Für Menschen mit Lern-, Lese- Schreibbehinderungen, mit geistigen Behinderungen und mit Autismus-Spektrums-Störung.

– …und nicht MIT allen!

Zu einem Sozialen Online Netzwerk gehört nicht nur die barrierefreie Technik sondern auch das medienerzieherische Handeln der Bezugspersonen, z. B. der Eltern, und deren Kompetenz für Soziale Online Netzwerke. (3), (4) Es fehlt Bezugspersonen jedoch oft an Wissen und noch mehr an Erfahrung im Umgang mit Sozialen Online Netzwerken. (2) Auf Basis von Berichten von Beteiligten im Projekt home fehlt Eltern und Fachpersonal der Behindertenhilfe häufig schlicht die Zeit, medienerzieherisch tätig zu werden, Zeit

  • sich intensiv mit Sozialen Online Netzwerken auseinander zu setzen und
  • gemeinsam mit Kindern und Klienten die Chancen und Grenzen im Internet auszuloten.

Das Projekt home: Soziale Online Netzwerke für und mit allen

Die fehlende Zeit der Bezugspersonen, die mangelnde Sicherheit in den bestehenden Plattformen und die nicht vorhandenen Möglichkeit schrittweise Erfahrungen in der Nutzung von Sozialen Online Netzwerken zu sammeln, haben uns am Lehrstuhl für Informationsmanagement der TU Braunschweig gemeinsam mit dem Integrations- und Therapie Zentrum des DRK in Wolfenbüttel 2011 dazu bewogen das Projekt home (engl. Für „holistic media literacy“, ganzheitliche Medienkompetenz) ins Leben zu rufen.

Über 60 Studierende, 40 Probanden mit Lern-, Lese- und Schreib- sowie geistiger Behinderung, Fachpersonal des DRK und unzählige Arbeitsstunden sind in die Entwicklung eines barrierefreien Sozialen Online Netzwerkes geflossen. Dabei sind wir jeden Schritt – von der Entwicklung von drei Prototypen, den Funktionssymbolen, einer Marktstrategie bis hin zu Schulungskonzepten -in enger Rückkoppelung mit Betreuern und Menschen mit Beeinträchtigung gegangen.

Das Soziale Online Netzwerk home wird

  • sehr leicht zu bedienen sein,
  • sicher sein,
  • Medienkompetenz fördern und

so die Nutzer langfristig befähigen, die gängigen Sozialen Online Netzwerke zu nutzen oder sich selbstbestimmt, auf Basis eigener Erfahrung, dagegen zu entscheiden.

Im Zentrum unseres pädagogischen Konzeptes steht das eigenständige Ausprobieren und selbstkritische Reflektieren in regional verankerten Gruppen. Mentoren begleiten eine Gruppe, die Soziale Online Netzwerke ausprobieren und nutzen lernen möchte. Sie bekommen auf der Plattform home einen eigenen, absolut sicheren Bereich zur Verfügung gestellt, in der nur ihre Gruppe agiert. In fest verabredeten Lerneinheiten erörtert die Gruppe dann selbstkritisch ihre Einträge in Bezug auf die Tauglichkeit für die Weböffentlichkeit und passt sie entsprechend an.

Sukzessive kann so jedes Gruppenmitglied individuell in der Netzwerkebene aufsteigen und sich dort mit Freunden, Familienmitgliedern und anderen Nutzern vernetzen und austauschen. Die Projektgruppe home bietet begleitende Schulungen an. So können erste Kontakte mit home und anderen Sozialen Netzwerken in integrativen Schulungen gemacht werden. Aber auch zielgruppenspezifische Weiterbildungen werden für Mentoren, Eltern und anderen Bezugspersonen angeboten. (Diese finden in Braunschweig oder einem Ort Ihrer Wahl statt. Außer einem Raum und Internetzugang muss nichts bereitsgestellt werden – Technik, Schulungsunterlagen und Personal wird vom Projekt home gestellt. Bei Interesse an einer solchen Schulung wenden Sie sich an Alexander Perl (a.perl@tu-braunschweig.de, 0531 391 3139)

Bisherige Erfahrungen aus dem Projekt

Abbildung 2 - Einzelschrittiges Postingverfahren
Abbildung 2 – Einzelschrittiges Postingverfahren

In Vorstudien mit den ersten Prototypen konnten wir bereits die Prozesse von Funktionen erforschen und für die finale Version optimieren. So ist das grundsätzliche – und erwartete – Ergebnis, dass sich die Anforderungen an Soziale Online Netzwerke von Menschen mit geistiger sowie Lern-, Lese- und Schreibbehinderung stark von denen von Menschen mit Autismus-Spektrums-Störung unterscheiden.

Für erstere Gruppe sollte beispielswiese das Texteingabefeld immer über den Beiträgen der Netzwerkkontakte sichtbar sein (s. Abb. 2), der Prozess also nicht zu viele Schritte und unterschiedliche Ansichten beinhalten. Für Menschen mit Autismus wiederum ist es besser, wenn der Prozess klarer von anderen Inhalten getrennt ist (s. Abb. 3).

Abb 3: mehrschrittiges Postingverfahren
Abb 3: mehrschrittiges Postingverfahren

Außerdem konnten wir die auf Basis der meist verwendeten Symbolkataloge (Boardmaker, PECS, Metacomm) entwickelten Funktionssymbole testen: Unsere Symbole für home wurden dann intuitiv verstanden, wenn wir sie nahe an der bekannten Dialektik gestalten konnten. In weiterführenden Tests sahen wir jedoch auch, dass die Symbole, die völlig neu entwickelt werden mussten (z.B. An-/Abmelden, Foto hochladen), mit ein bisschen Erfahrung ebenso gut wiedererkannt wurden.

Die integrative Schulung zu Online Netzwerken kam bei allen Teilnehmern gut an. Speziell die Eltern waren dankbar für die dedizierte Social Media Lernzeit mit ihren Kindern und unsere Begleitung dabei. Schlussendlich steht für die Forschung in der Wirtschaftsinformatik und für die Zielgruppe Menschen mit Beeinträchtigung ein spannender Schritt bevor. In der aktuellen Experimentphase wenden die Studierenden ein etabliertes Akzeptanzmodell aus der Wirtschaftsinformatik an. Da in der ursprünglichen Variante relativ abstrakte Konstrukte abgefragt werden (5), musste es für die Zielgruppe optimiert werden. Die Methode ermöglicht es, vor der Veröffentlichung von z.B. Software, zu erforschen, ob die Zielgruppe davon einen entsprechenden Nutzen hat und sie auch benutzen wird. Die Erfolgschance, dieses Modell mit den entsprechenden Anpassungen in Zukunft für die Erforschung der Akzeptanz von neuen Technologien für Menschen mit Beeinträchtigungen anzuwenden, stehen gut.

Zentraler Aspekt in dem erwähnten Modell, ist die Perspektive und Wahrnehmung des Probanden. Unsere Daten sind noch nicht ausgewertet. Einen Schluss können wir aber schon mit großer Sicherheit ziehen: Die Erfahrung, die unsere Probanden mit home machen, führt zu einem schnellen Anstieg des wahrgenommenen Nutzens von Sozialen Online Netzwerken. Sie freuen sich auf den Start.

Projektdaten

  • Ziel: barrierefreies, sicheres Soziales Online Netzwerk und Kompetenzvermittlung
  • Projektstart: 2011
  • Öffentlicher Zugang: Sommer 2014
  • Projektinfos: www.home-fueralle.org (auch in Leichter Sprache)
  • Projektleitung: Alexander Perl (a.perl[at]tu-braunschweig.de, 0531 391 3139)

Literatur und weitere Infos

  • H. Weber and C. Edler, “Supporting the Web Experience of Young People with Learning Disabilities,” in Computers Helping People with Special Needs – 12th International Conference, ICCHP 2010, Vienna, Austria, July 14-16, 2010. Proceedings, vol. 6179, K. Miesenberger, J. Klaus, W. Zagler, and A. Karshmer, Eds. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, 2010, pp. 649–656.
  • O. Steiner and M. Goldoni, “Medienkompetenz und medienerzieherisches Handeln von Eltern – Eine empirische Untersuchung bei Eltern von 10- bis 17-jährigen Kindern in Basel-Stadt,” Basel, 2011. [ Im Rahmen des Projektes home wird diese Studie spezialisiert auf Eltern mit Kindern mit Beeinträchtigung durchgeführt. Bis zum 31.3.2014 können Sie an der Umfrage teilnehmen. Sollten Sie weitere Fragen haben wenden Sie sich an Alexander Perl (a.perl[at]tu-braunschweig.de)
  • A. Lange and H. Theunert, “Jugendliche Medienkulturen als (Selbst-) Sozialisationsinstanz-Einführung in den Themenschwerpunkt,” Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozial., 2008.
  • D. Baacke, Medienpädagogik. Walter de Gruyter, 2007.
  • F. D. Davis, “Perceived Usefulness, Perceived Ease of Use, and User Acceptance of Information Technology,” MIS Q., vol. 13, no. 3, pp. 319–340, Sep. 1989.